Am 12. Juni wurde eine Delegation bestehend aus Aktivist:innen, Politikeri:nnen der Linkspartei, Journalist:innen, Vertreter:innen von Ende Gelände und Menschenrechtsaktivist:innen am Düsseldorfer Flughafen von der Bundespolizei an der Ausreise nach Erbil in der Autonomen Region Kurdistan im Noridrak gehindert.
19 Reisende wurden direkt nach der Passkontrolle von einer Vielzahl von Bundespolizisten aufgehalten und in die Flughafenwache gebracht. Unter den Festgehaltenen waren auch die Fraktionsvorsitzende der Hamburger Bürgerschaftsfraktion Cansu Özdemir, der ehemalige Bürgermeister der Stadt Diyarbarkir Sur, Abdullah Demirbas, sowie Martin Dolzer, Delegierter des linken Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko und Vertrauensperson der Volksinitiative gegen Rüstungsexporte. Die Delegation wurde bis zu 7 Stunden in einem Raum ohne Fenster auf der Wache der Bundespolizei im Düsseldorfer Flughafen festgehalten. Den Reisenden wurden die Reisepässe abgenommen – und sie wurden dann einzeln befragt. Gegen 15 der Betroffenen wurde von der Bundespolizei ein Ausreiseverbot ausgesprochen, weil durch die Ausreise „die Interessen der Bundesrepublik gegenüber dem NATO-Partner Türkei“ gefährdet würden.
Die Verhinderung der Ausreise war rechtwidrig und politisch motiviert. Das Ziel der Festsetzung war offenbar sämtliche Reisenden an der Ausreise zu hindern. Anstatt politischen Druck aufzubauen und damit dazu beizutragen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Türkei gegen die PKK und die Zivilbevölkerung im Nordirak zu beenden und die OPCW einzuschalten um Berichte über mehrere Chemiewaffeneinsätze durch die türkische Armee aufzuklären, wird versucht jegliche politische Arbeit der Zivilgesellschaft und der Opposition wie auch die Dokumentation der Situation vor Ort zu verhindern.
Weitere Politiker:innen, Journalist:innen und Aktivist:innen aus Deutschland, unter ihnen auch der Berliner Abgeordnete Hakan Tas, wurden, ebenfalls am Sonnabend, bereits in Erbil im Nordirak angekommen festgesetzt. 23 von ihnen wurden von den dortigen Sicherheitskräften in einem Keller festgehalten. Sie sollten zunächst bis zum folgenden Dienstag auf eine Abschiebung warten. Es standen 12 Betten für 23 Personen zur Verfügung. Nach Protesten und auf diplomatischen Druck wurden die 23 dann bereits am Sonntag über Doha und Kairo nach Deutschland abgeschoben. Das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. Civaka Azad teilte mit, dass insgesamt mindestens 40 Menschen aus elf Ländern am Flughafen in Erbil an der Einreise gehindert wurden, darunter auch Delegierte der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF).
Die Delegation, die Deutsche Journalist:innen Union, End Gelände und auch der Vorstand der Linkspartei kritisierten die Festsetzung und Verhinderung der Arbeit der Delegation. In einer Erklärung heißt es Ziel der Reise war, sich vor Ort in Erbil über die seit Wochen andauernden Militäraktionen der Türkei im Nordirak zu informieren und auf die völkerrechtswidrigen Angriffe aufmerksam zu machen. Der Parteivorstand der Linkspartei erklärte er erwarte von der Bundesregierung und dem Auswärtigen Amt sofortige und umfassende Aufklärung über den Vorgang. Es könne nicht sein, dass Politiker:innen, die ihre Rechte wahrnehmen, auf diese Weise in ihrer Arbeit behindert werden. Deutsche Behörden dürften nicht zu Erdogans Handlangern werden. Die Hamburger Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) kündigte eine Untersuchung des Vorfalls an. Mitglieder der Delegation werden erstatteten mittlerweile Anzeige gegen die rechtswidrige Festsetzung
Die Situation in der Kurdischen Autonomieregion
Seit dem 23. April 2021 werden im Nordirak, in den kurdischen Autonomiegebieten in der Region rund um das Kandilgebirge fast täglich Dörfer bombardiert. Die Zerstörung der Lebensgrundlage hat bereits zur Vertreibung von mehr als 1500 Menschen geführt. Trotz der oben genannten offenbar international koordinierten Repression befanden sich von Mitte bis Ende rund 80 Menschen aus elf europäischen Ländern in Erbil und haben sich dort für einen Friedensdialog eingesetzt und mit Abgeordneten, Parteien und der Zivilbevölkerung gesprochen. Unter ihnen auch der Vizepräsident des Französischen Senats (vergleichbar mit dem Bundesrat) Pierre Laurent. Auch die Delegation vor Ort war mit Repressionen konfrontiert. Die KDP (Demokratische Partei Kurdistans) – die Regierungspartei in der dortigen Region – behinderte ihre Bewegungsfreiheit und verbot das Besuchen von Dörfern. Trotzdem blieb die Delegation aktiv, führte Gespräche und brachte ihr Engagement für den Frieden zum Ausdruck.
Im Nordirak leistet die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) Widerstand gegen den, im Vergleich zu den jährlich üblichen Frühjahrsoffensiven langanhaltende Angriff der türkischen Armee, dessen Ziel offenbar die Vernichtung der PKK und eine schrittweise Besatzung der Kurdischen Autonomieregion seitens der Türkei – ähnlich wie schon in Afrin in Nordsyrien – ist. Dabei setzte die türkische Armee Berichten zufolge mehr als zwanzigmal Chemiewaffen ein, um in die Tunnelsyteme der PKK vorzudringen. Anstatt diesen Vorwürfen und einer vielzahl an Augenzeugenberichten dazu nachzugehen, schweigen sowohl die Regierungen in der EU wie auch die UN und die OPCW, die für die Verhinderung von Chemiewaffeneinsätzen zuständig ist.
Die Regierung der Autonomen Region Kurdistan unter der KDP setzt sich bisher nicht für die territoriale Integrität des Landes ein und agitiert offen gegen die Zivilbevölkerung und die PKK. Schon seit Jahren werden Militärbasen der türkischen Armee auf dem Territorium der Autonomen Region, Im Nordirak geduldet. Zudem bewegte die KDP zeitweise Peschmerga Einheiten in oder durch Regionen, die von der PKK kontrolliert werden, um gemeinsam mit der türkischen Armee eine Art Kessel um die Guerilla zu bilden. Dieses Vorgehen der KDP und ihre Gesamthaltung wird nicht nur seitens der PKK sondern auch von Vertreter:innen der im Parlament der Autonomieregion stark vertretenen PUK (Patriotischen Union Kurdistan) und der Gorran Partei (einer linksliberalen Partei) kritisiert. Es sei eindeutig, dass die Regierung Erdogan die Kurd:innen gegeneinander ausspielen will, um eigene neo-osmanische Interessen durchzusetzen, so die einhellige Kritik. Auch in der Bevölkerung der Region, selbst unter Wähler:innen und Anhänger:innen der KDP, mehren sich Kritik und Widerstand gegen die Politik der Führung der KDP, die vom Barzani Clan dominiert wird. Ein erneuerter Geschwisterkrieg unter Kurd:innen, wie er in der Geschichte schon mehrfach geführt wurde, soll nicht erneut stattfinden.
Am 5. Juni wurde eine Fahrzeugkollone der Peschmerga, Aussagen von Überlebenden Peschmerga und den Schäden an den Fahrzeugen zufolge, durch einen Luftangriff zerstört. Bei dem Angriff wurden mehrere Peschmerga verletzt und getötet. Dass der Angriff lediglich von der türkischen Armee durchgeführt worden sein kann, ist unter Expert:innen unumstritten, da lediglich diese über die notwendigen Waffen für einen derartigen Angriff verfügt. Jenseits der Sachlage macht die KDP Regierung die PKK für diesen Angriff verantwortlich und bedient so die Interessen der Regierung Erdogan, die an der Eskalation des Konflikts zwischen der KDP und der PKK interessiert ist.
Ein Hintergrund für die Haltung der KDP ist sicherlich die Wirtschaftspolitik der KDP, die sich hauptsächlich auf den Handel mit der Türkei sowie mit westlichen Staaten konzentriert, anstatt die eigene Volkswirtschaft, Landwirtschaft und das Handwerk zu entwickeln und so eine unabhängige Stabilität zu erreichen. Zudem sind sowohl R.T. Erdogan wie auch Mitglieder der Familie Barzani dem sunnitischen Nakschebendi Orden an. Ein weiterer Aspekt sind die ideologischen Unterschiede zwischen der patriarchal-feudalistisch orientierten KDP – die eine clan- und klientelzentrierte Politik betreibt – und der PKK, die auf den Demokratischen Konföderalismus orientiert – ein von Abdullah Öcalan entwickeltes Gesellschaftsmodell, dass auf sozialistischen und anarchistisch-kommunalistischen Wurzeln beruht, diese Ideologien jedoch auf den Mittleren Osten anwendet und um feministische, ökologische und basisdemokratische Aspekte ergänzt. Dieses Modell beinhaltet das respektvolle Zusammenleben aller Bevölkerungs- und Religionsgruppen und einen institutionell verankerten und gut ausgeprägten Minderheitenschutz.
Dem entsprechend wird die KDP von den NATO-Staaten unterstützt und die PKK in der Bundesrepublik und weiteren Ländern weiterhin kriminalisiert. Obwohl es die PKK war, die mehrere Hundertausend Eziden in Sengal vor dem sogenannten Islamischen Staat rettete und mittlerweile auch regierungsnahe Think Tanks wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bescheinigen, dass die PKK seit Jahren versucht einen Friedensprozess in der Türkei und im Mittleren Osten zu initiieren und dass die Organisation ideologisch mit der Orientierung auf Frauengleichberechtigung, Minderheitenrechte und demokratische Strukturen ein Stabilitätsfaktor in der Region sein könnte. Belgien hat die PKK mittlerweile von der Terrorliste gestrichen und erkennt an, dass die Organisation einen Kombatantenstatus hat, da sie sich gegen ständiges systematische Unrecht seitens der Türkei wehrt. Die Regierung Erdogan beabsichtigt neben der Durchsetzung des neo-somanischen Projekts offenbar die Vernichtung eines Großteils der Kurd_innen. 2011 und 2016 hatten Politiker_innen und Künstler_innen R.T. Erdogan und weitere Verantwortliche aus Regierung und Militär bei der Generalbundesanwaltschaft wegen Kriegsverbrechen u.a. Chemiewaffeneinsätzen auf Grundlage des deutschen Völkerstrafgesetzbuches angezeigt. Die Anzeigen wurden allerdings offenbar aus geostrategischen Motiven ohne schlüssige Begründungen nicht zur Klage erhoben.
Eine eigenständige und selbstbestimmte Entwicklung der gesamten Region, egal ob in Rojava/Nordsyrien, in Syrien oder im Nordirak, noch dazu mit linken Wurzeln passt weder in das Greater Middle East Project der USA noch in die Pläne der EU.
Deshalb ist umso wichtiger, dass die Solidarität mit der kurdischen Bewegung sowohl hier als auch international zum Ausdruck gebracht und weiterentwickelt wird. Der völkerrechtswidrige Krieg muss sofort gestoppt und den Berichten über die Zerstörung von Dörfern sowie Chemiewaffeneinsätze muss nachgegangen werden. Derartige Kriegsverbrechen und völkerrechtswidrige Interventionen dürfen nicht toleriert werden. In Afrin hat sich gezeigt, dass die Regierung im Zustand der Besatzung kurdische, christliche und jezidische Menschen vertreibt und stattdessen Familien islamistischer Söldner dort ansiedelt. Für den Nordirak ist Ähnliches zu befürchten.
Ein Friedensdialog an dem alle dort lebenden Bevölkerungsgruppen und politischen Parteien beteiligt werden, ist der einzige Weg damit die Menschen in der Region zukünftig in Frieden und Würde leben können. Als Volksinitiative können wir dazu beitragen, indem wir unseren Anteil daran leisten, dass keine Waffen mehr dorthin transportiert werden.
Artikel von Martin Dolzer