Rede der Initiative gegen Rüstungsexporte beim Allende-Gedenken 2024

Von Gunhild Berdal

1982 erhielt Gabriel García Márquez den Nobelpreis für Literatur. Der kolumbianische in jeder Hinsicht phantastische Dichter, bekennende Sozialist und Autor von Romanen wie „100 Jahre Einsamkeit“ oder „Die Liebe in Zeiten der Cholera“ hatte Weltliteratur geschaffen und es damit sogar nach Skandinavien geschafft. Sprachgewaltig öffnete er die Augen und Herzen des geneigten Publikums für die Geschichte und Geschichten Lateinamerikas – und für das notwendige Engagement für Veränderungen hier wie dort. In seiner Rede zur Preisverleihung sagte er nach einer dichten Reise durch die aktuellen Konflikte des geschundenen Kontinents u.a.:

„Aus Chile, einem Land mit gastfreundlichen Traditionen, sind eine Million Menschen – 10 Prozent der Bevölkerung – geflohen. Uruguay, ein winziges Land mit zweieinhalb Millionen Einwohnern, das einst als das zivilisierteste Land des Kontinents galt, hat jeden fünften seiner Bürger an das Exil verloren. Der Bürgerkrieg in El Salvador hat seit 1979 fast alle 20 Minuten einen Flüchtling hervorgebracht. Das Land, das alle Exilanten und Zwangsemigranten aus Lateinamerika aufnehmen könnte, hätte eine größere Bevölkerung als Norwegen (damals 4 Millionen).
Ich wage zu glauben, dass es diese enorme Realität und nicht nur ihr literarischer Ausdruck ist, die in diesem Jahr die Aufmerksamkeit der Schwedischen Akademie der Literatur verdient hat. Eine Realität, die nicht auf dem Papier steht, sondern mit uns lebt und jeden Augenblick unseres zahllosen täglichen Todes bestimmt, und die eine unersättliche Quelle der Schöpfung voller Unglück und Schönheit speist, von der dieser wandernde und nostalgische Kolumbianer nur eine weitere vom Schicksal gezeichnete Gestalt ist.
(…)
Die Originalität, die uns in der Literatur vorbehaltlos zugebilligt wird, warum verwehrt man sie uns mit allen möglichen Verdächtigungen bei unseren schwierigen Versuchen sozialer Veränderung? Warum sollte die soziale Gerechtigkeit, die fortschrittliche Europäer in ihren Ländern durchzusetzen versuchen, nicht auch ein lateinamerikanisches Ziel mit anderen Methoden unter unterschiedlichen Bedingungen sein? Nein: Die maßlose Gewalt und der maßlose Schmerz unserer Geschichte sind das Ergebnis jahrhundertelanger Ungerechtigkeiten und Bitternissen ohne Zahl und nicht eine Verschwörung, die dreitausend Meilen von unserem Haus entfernt ausgeheckt wurde. Doch viele europäische Führer und Denker glauben mit dem Infantilismus von Großvätern, die die fruchtbaren Verrücktheiten ihrer Jugend vergessen haben, es gebe kein anderes Schicksal, als von der Gnade der beiden größten Herrn der Welt zu leben. Dies, meine Freunde, ist das Ausmaß unserer Einsamkeit.“

Die Rede hat einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Am Abend nach der Preisverleihung fand auf dem ländlichen Gut Harpsund des schwedischen Ministerpräsidenten, das war damals der linke Sozialdemokrat und Internationalist Olof Palme, eine bemerkenswerte Begegnung statt. Feierlich kamen dort neben dem Nobelpreisträger und dem Ministerpräsidenten die Abrüstungsaktivisten
Alfonso García Robles aus Mexiko und Alva Myrdal aus Schweden, die im selben Jahr den Friedensnobelpreis erhielten, das Ehepaar Ecevit aus der Türkei, Danielle Mitterand (Frau des französischen Ministerpräsidenten) sowie hohe Vertreter des schwedischen Außenministeriums zusammen. (Es war die Zeit zahlreicher Abrüstungsinitiativen, die unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit oder sog. Palme-Kommission hatte gerade der UNO und der Welt ihre Empfehlungen vorgelegt.) Beim Abendessen sprachen sie u.a. über die Notwendigkeit und Möglichkeit der Aussöhnung in den blutigen Konflikten in und um El Salvador, Guatemala und Nicaragua. Dort führten die USA eine harte Aufstandsbekämpfung gegen alle Bestrebungen der Emanzipation vom kolonialistischen Joch, vor allem gegen die Sandinisten in Nicaragua, was auch zu Bürgerkriegen und Konflikten zwischen den Ländern führte und wie so häufig ging es auch Öl.
Jedenfalls, das Treffen mündete in den „Harpsunder Appell“, der sowohl die dortigen Regierungen als auch und vor allem die Machthaber in den USA adressierte. Eine zentrale Botschaft lautete:

„Wir bitten die Politiker und Militärs in der Region darum, unverzüglich und ohne Vorbedingungen Verhandlungen aufzunehmen. Ein erster Schritt ist, den Export und den Handel mit Waffen sowie jegliche Militärhilfe innerhalb der Region und von außerhalb einzustellen und die territoriale Integrität aller betroffenen Staaten zu respektieren.“

Ihr merkt, wir nähern uns dem Thema Rüstungsexporte. Der Kalte Krieg in Mittel- und Südamerika war gar nicht so kalt. Reagans Außenminister erklärte Mittelamerika 1981 zum „Testfeld des Kalten Krieges“. Möglich wurde die militärische Bekämpfung der Bevölkerungen u.a. durch Waffenlieferungen (und Geld und Geheimdienste und Folter,…) durch die USA. (Ihre illegale Iran-Contra-Affäre wurde 1986 vom Internationalen Gerichtshof für völkerrechtswidrig erklärt.) Aber auch aus Europa kam Rüstungsgüter. Blohm und Voss z.B. lieferte willig und profitträchtig Korvetten und Fregatten, also Kriegsschiffe an verschiedene Diktaturen in Argentinien. Nach Chile gingen Waffen aus der Bundesrepublik in großen Maßstab über die reaktionäre Sekte „Colonia Dignidad“, häufig kaschiert als medizinische Hilfeleistungen, auch schon zur Vorbereitung des Putsches.

Die bundesrepublikanische Politik war hier widersprüchlich: Die sozialliberale Brandt-Regierung war eher auf Entspannungskurs und in der SPD wurde der chilenische Weg von einigen mit großer Sympathie und von anderen mit Skepsis betrachtet. Die offizielle Bundesrepublik und auch das Auswärtige Amt verurteilte den Putsch, aber die deutsche Botschaft in Chile hielt Pinochet offenkundig für das kleinere Übel und beteiligte sich an einigen schmutzigen Geschäften.
Die Reaktionären hierzulande, allen voran Franz Josef Strauß von der CSU, bejubelte den Putsch als „Freiheit“ und „gewaltigen Schlag gegen den internationalen Kommunismus“.

Der internationale Appell aus Schweden war so wertvoll und wirkungsvoll, weil er zwar in diplomatischer Form, aber klar benannte: Waffenlieferungen heizen Konflikte an. Sie sind zwar nicht ihre Ursache, aber ein Stopp der „Militärhilfe“ (ein Kandidat zum „Unwort des Jahres“?) ist eine wichtige Voraussetzung für Verhandlungen, die zu einem dauerhaften Frieden führen können.

Und, dem Appell folgten folgenreiche Taten, zunächst in Lateinamerika selbst. Es wurde eine Gruppe aus Kolumbien, Mexiko, Venezuela und Panama gebildet, um in den Konflikten zu vermitteln. Sie kam das erste Mal 1983 auf der Insel Contadora zusammen und nannte sich fortan „Contadora-Gruppe“. Argentinien, Brasilien, Peru und Uruguay kamen später dazu. Sie arbeiteten bis 1986 mit Unterstützung Kanadas und vieler europäischer Länder zunächst erfolglos an einer Befriedung der Kriege, da die USA immer wieder dagegen intervenierte und intrigierte. Dennoch führte die Arbeit 1987 zu den Friedensvereinbarungen von Esquipulas, die eine langfristige Sicherung des Friedens für Mittelamerika zum Ziel hatte.
Darin verpflichteten sich die Staatschefs von Honduras, Nicaragua, El Salvador, Guatemala und Costa Rica, innerhalb ihrer Länder Gespräche zur Friedenssicherung zu führen, die Unterstützung von Guerilla-Gruppen in den Nachbarländern einzustellen, demokratische Grundrechte und frei Wahlen zu ermöglichen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit voranzutreiben.

Dieser Prozeß ist mit Sicherheit ein widersprüchlicher gewesen. Doch die Tatsache, daß die UNESCO die Contadora-Gruppe mit dem Simón-Bolívar-Preis würdigte, zeigt, daß er wegweisend war und vielleicht heute noch ist. Die Gruppe habe „sich dafür eingesetzt, das Leiden der Bevölkerung Mittelamerikas zu beenden, sicherzustellen, dass jedes der Völker sein Recht auf Würde und Unabhängigkeit ausüben könne, und eine Lösung für einen Konflikt zu finden, der mit seinem Fortdauern die Aussicht auf Frieden in der Welt ernsthaft gefährdet hätte.“

Nach und nach mußten die USA Ende der 1980er Jahre ihren Einsatz gegen Nicaragua einstellen, auch aufgrund von viel internationaler Aufmerksamkeit und Solidarität. So konnte auch schließlich auch die Diktatur Pinochets beendet werden.

Damit ist noch nicht Frieden und Sozialismus ausgebrochen. Aber die Linken in Lateinamerika haben ihren Weg der progressiven Integration gegen alle kolonialen Anmaßungen und Grausamkeiten fortgesetzt. Aus den vielen Verhandlungen und Verträgen ist z.B. auch entstanden, daß 2014 in Havanna die Lateinamerikanische und Karibische Staatengemeinschaft CELAC sich zu einer „Zone des Friedens“ erklärt und sich zur dauerhaften friedlichen Konfliktbeilegung verpflichtet hat. Das gilt nicht nur untereinander. Wir erinnern uns an Lula, der kürzlich Olaf Scholz dazu aufgefordert hat, einen „Friedensclub“ mit zu bilden, um im Ukraine-Krieg diplomatisch zu vermitteln! Und nicht zufällig haben fast alle Staaten Lateinamerikas den Atomwaffenverbotsvertrag der UNO unterschrieben.

Zu erwähnen wären noch die vielen Initiativen aus dem Globalen Süden für Abrüstung und Entwicklung in der UNO. Dafür fehlt hier die Zeit. Aber das Bewußtsein für diesen Zusammenhang wächst und wächst. Das ist auch ein Ansatzpunkt für unsere Arbeit hier. Indem wir hier dafür sorgen (wollen), daß keine Waffen für Zerstörung und Aufstandsbekämpfung geliefert werden, kein Geld verschwendet wird, das so nötig gebraucht wird für Bildung und Gesundheit, keine Steuergelder für das Mästen von fetten Schweinen wie Papperberger von Rheinmetall ausgegeben werden, schaffen wir Bedingungen dafür, daß die Menschen in der Ukraine und Rußland, in Gaza und Israel, in Sudan und überall und sich ohne Gewalt verständigen und den Frieden gewinnen können. Nicht zuletzt setzen wir damit dem Militärisch Industriellen Komplex zu, der auch hier die Politik nach ihrem Gusto militarisieren will. Schaffen wir statt Konkurrenz eine Kultur des Friedens, die dem Krieg den Krieg erklärt!

So schließt sich – vorläufig – ein Kreis: Von Chile und Kolumbien, über Schweden in die weite Welt und damit zu unserer Verantwortung hier.
Wir sind davon überzeugt, daß der Stopp von Rüstungsexporten über den Hamburger Hafen ein Teil der – frei nach Heinrich Heine – „Emanzipation der ganzen Welt“ ist.

 

Ich ende mit dem Ende der Rede von García Marquez:
„Angesichts dieser beängstigenden Realität, die zu allen Zeiten der Menschheit wie eine Utopie erschienen sein muss, fühlen wir gutgläubigen Erfinder von Fabeln uns berechtigt zu glauben, dass es noch nicht zu spät ist, eine Gegenutopie in Angriff zu nehmen. Eine neue mitreißende Utopie des Lebens, in der niemand für andere entscheiden kann, wie sie zu sterben haben, in der die Liebe wirklich wahr und das Glück möglich ist und in der die zu hundert Jahren Einsamkeit verdammten Völker endlich und für immer eine zweite Chance auf Erden erhalten werden.“